Die Wahrscheinlichkeitsrechnung

Von Teo von Torn
in: „Lustige Blätter”, 1904, Nr. 25


Der Kommandeur der Kadettenanstalt hatte den Inhalt des Allerhöchsten Handschreibens, welches er am Abend vorher durch Spezialkurier empfangen, dem versammelten Lehrerkollegium soeben mitgeteilt.

Nachdem der Herr Oberst den Brief sorglich in seine Falten geknifft und ihn in eine braune Ledertasche eingeschlossen, setzte er sich. Die Militär- und Zivilpräzeptoren setzten sich ebenfalls.

Der Herr Oberst wartete noch einen Augenblick, bis das Stühlescharren und die anderen Geräusche, welche die innere und äußere Bewegung des Kollegiums zum Ausdruck brachten, sich gelegt. Dann räusperte er leicht in die hohle Hand und ließ sich also vernehmen:

„Meine Herren, die Allerhöchste Willensmeinung ist hier so klar ausgesprochen, daß es sich erübrigt, noch etwas hinzuzufügen. Bei der Treue und Gewissenhaftigkeit, welche ich für jeden Einzelnen von Ihnen voraussetze, bedarf es gewiß keiner besonderen Anregung, der gegebenen Richtschnur zu folgen — und das um so peinlicher und sorgfältiger, als diese Richtschnur sich genau in Linie jener Grundsätze bewegt, welche Ihnen schon bei Aufnahme des Prinzen in die Anstalt mitgetheilt worden sind. Er dürfen keine Unterschiede gemacht werden: weder in der Behandlung der Lehrfächer, noch in der Lebenshaltung des Prinzen, soweit diese der Anstaltsordnung unterworfen sind. Meine Herren, da uns das noch einmal eingeschärft wird, kann ich die Befürchtung nicht von mir weisen, daß in dieser Hinsicht nicht genug den Allerhöchsten Wünschen entsprechend verfahren worden ist. Ich muß also dringend, seeeehr dringend bitten, daß von Stund an nach keiner Richtung hin differenziert wird — ja, ich möchte sogar vorschlagen, die Anforderungen an unsern hohen Zögling, entsprechend seinen bedeutenden Anlagen, lieber etwas zu erhöhen. Ich lege Ihnen das um so angelegentlicher ans Herz, als wir in Kürze den Besuch unseres Allerhöchsten Herrn zu gewärtigen haben, wie Sie es soeben vernommen. Ich danke Ihnen bestens, meine Herren.”

Zu den Lehrern, welche sich den überzuckerten Rüffel ganz gesonders hinter die Ohren geschrieben, gehörte Dr. Spiridius Plank, der Mathematiker. Eine etwas subalterne und ängstliche Natur, hatte er es nicht über sich gewinnen können, den prinzlichen Zögling mit demselben Maße zu messen wie die andern Kadetten — jene Bambusen, die aus Spiridius einen alkoholischen Spitznamen gemacht und sich ob seiner rosigen Wangen und seiner Fußballen erheiterten. Er hatte immer etwas minder komplizirte mathematische Aufgaben gewählt und dann auch noch nachgeholfen, wenn die Lösung einmal Schwierigkeiten zu machen schien.

Das hörte nun auf selbstverständlich. Bei aller Gutherzigkeit war Dr. Plank nicht der Mann, eine Karriere aufs Spiel zu setzen, die so glänzend sich anließ, wie die seine. Mit siebenundzwanzig Jahren Prinzenerzieher! In seinem Stübchen träumte er oft die Träume einer glänzenden Zukunft — und aus jedem seiner extra großen Knopflöcher schrie ein heißer Wunsch gen Himmel . . . .

Nachdem er beobachtet, wie sein Freund, der Inspektionsoffizier und Turnlehrer Oberleutnant von Ringfeld, es sogar wagte, dem prinzlichen Bauchaufschwung durch einen loyalen Klaps ad posteriorem größere Verve zu geben, und der Kühne dieserhalb nicht auf Festung geschickt wurde, änderte Dr. Spiridius Plank seine Taktik vollständig. Der arme Prinz bekam algebraische Nüsse zu knacken, daß ihm der Kopf brummte — und wenn er dann hilfeflehend zu seinem Lehrer aufsah, legte dieser sein rosiges Antlitz in strenge Morchelfalten und wandte sich ab.

Für den Tag, an welchem der Allerhöchste Besuch stattfinden sollte, hatte der Mathematikus eine Aufgabe, eine Wahrschein­lichkeits­rechnung ausgetüftelt, die ihresgleichen suchte. Sie war das Spitzfindigste und Schwierigste, was man sich denken konnte — außerdem von einem ernsten, patriotischen Geiste getragen. Die gegebenen Faktoren waren lauter siegreiche Panzerschiffe, und es war herauszurechnen, wie oft sich der Sieg an die deutsche Reichsmarine heften konnte, wenn die Abgeordneten im Parlament eine bestimmte Anzahl dieser Schiffe durch zehn Jahre alljährlich über den Etat hinaus bewilligten.

Dr. Spiridius Plank war sehr glücklich, als er sah, daß der Prinz sich mit dem knifflichen Ding vergeblich abmühte — und dieses Glück steigerte sich zu einem athembeklemmenden freudigen Schreck, als er erfuhr, daß der Prinz die Aufgabe sogar seinem Vater vorgelegt und der hohe Herr mit einem ganz eigenen Lächeln höchstselbst sich um die Lösung bemüht habe.

Der Mathematikus ließ sich sofort das Heft geben und — — versank in Tiefsinn. Unter der Aufgabe nämlich stand wörtlich Folgendes:

Nimmt man Panzer = p, Reichmarine = r und Abgeordnete = a, so würde aus des Herrn Dr. Plank Wahrschein­lichkeits­rechnung als Resultat sich ergeben: pra4. Darin aber hat er sich verrechnet!

Nachdem der Mathematikus einige Stunden über dieser völlig unverständlichen Lösung gebrütet, beschloß er, bei seinem Freunde, dem Oberleutnant von Ringfeld, sich Rath zu holen. Der Offizier hatte Aufgabe und Lösung kaum überflogen, als er sich auf sein Sopha warf und im Uebermaß des Entzückens mit den beiden langen Beinen in der Luft herumangelte. Dabei rief, lachte und stöhnte er „pra4 in allen Tonarten. Erst als der Andere mit seinem Räthsel beleidigt abziehen wollte, stand er auf und wischte sich die Lachthränen aus den Augen.

„Ich verstehe keine Silbe,” begehrte Spiridius Plank auf. „Wissen Sie denn, was pra4 ist!?”

„Allerdings, pra4 ist die übliche amtliche Abkürzung im Militär-Wochenblatt für: Preußischer Rother Adlerorden IV. Klasse.”

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